Abeyance & Concurrence
(Schwebe & Gleichzeitigkeit)
Jessika Khazrik nor the Society of False Witnesses
Kuratiert von Emanuele Guidi
Für ihre erste Einzelausstellung in Italien hat Jessika Khazrik nor the Society of False Witnesses ihre Arbeit umgestaltet und ihr die Form einer vielschichtigen, ferngesteuerten Installation gegeben, die ausschließlich von der Straße aus und damit trotz der aktuellen Schließungsmaßnahmen erfahrbar ist. Abeyance & Concurrence (Schwebe & Gleichzeitigkeit) entstand in Reaktion auf die gedehnte Zeitlichkeit der (post-)koronialen Gegenwart und entsorgten Vergangenheit angesichts der jüngsten kollektiven wie auch persönlichen Erfahrungen von Aufstand, Solidarität und Verhaftung der Künstlerin. Es handelt sich um einen Versuch, strukturellen Verwerfungen des internationalen Rechts den gewaltigen Ausbruch langsamer Gewalt und die gleichzeitige Suche nach transformativer Gerechtigkeit anhand von Akten kollektiver Störung entgegenzustellen.
Da die Künstlerin erst kürzlich gezwungen war, von Beirut nach Berlin überzusiedeln, und ihre Bewegungsfreiheit derzeit noch eingeschränkt ist, hat Jessika Khazrik nor the Society of False Witnesses den Ort der ar/ge kunst durch eine progressive Anhäufung von Elementen zugänglich gemacht, indem sie die Fensterfront in eine refraktive, mehrsprachige Plattform verwandelte, die Sound, Licht, Rauch, Codes und optische Täuschungen überträgt. Die multisensorischen Elemente werden von Khazriks Berliner Atelier aus mit Unterstützung von Verbündeten in Bozen fernbedient. Die Innenräume der ar/ge kunst selbst bleiben während der gesamten Ausstellungsdauer geschlossen.
Ausgangspunkt von Abeyance & Concurrence (Schwebe & Gleichzeitigkeit) ist das indisziplinäre Forschungsprojekt Blue Barrel Grove, an dem die Künstlerin seit 2013 arbeitet. Dieses begann ursprünglich mit der Recherche zu einem 1987 zwischen Italien und dem Libanon betriebenen illegalen Handel mit Giftmüll, der teilweise in einem Steinbruch unweit des Elternhauses der Künstlerin entsorgt wurde. Abeyance & Concurrence (Schwebe & Gleichzeitigkeit) bildet die Fortsetzung ihrer sorgfältigen Untersuchungen und spürt zudem den komplexen Verknüpfungen nach, die zwischen Umweltzerstörung als einer Form von Waffe und dem Bankwesen als Staatsräson bestehen. Gleichzeitig reagiert die Arbeit auf die jüngsten Ereignisse, die sich auf das Zuhause und das Leben der Künstlerin auswirkten – die Revolutionen vom Oktober 2019, ihre Enteignung und unrechtmäßige Verhaftung während der andauernden libanesischen Bankenkrise, die Explosion vom August 2020 in Beirut und die von COVID-19 bewirkte Syndemie*. In eindringlicher Weise wird so den schwebenden Verbindungen zwischen der politischen Ökonomie von Desinfizierung und Staatshygiene sowie Regimes der Unsichtbarkeit und Komorbidität nachgegangen, die aus der Nichtbeachtung und Zirkulierung von Giftmüll und Rüstungsabfällen folgen. Der Akt der Untersuchung des Körpers wird somit zu dem einer Untersuchung des Staates.
Schichten steganografischer Bilder und linsenförmige Skulpturen überlagern einander auf der spiegelnden Fensterfront der ar/ge kunst. Hierfür verarbeitete die Künstlerin Datensätze anhand von maschinellem Lernen und verband sie mit einer Collage von Fotografien, die aus dem Privatlabor von Wissenschaftler*innen stammen. Kurze Sätze auf Arabisch, Deutsch, Italienisch und Englisch, die eine Entmilitarisierung der Informatik, industrielle Abrüstung und die kollektive Einführung einer universellen Anti-Währung fordern, werden in bunt schillernder Schichtung zusammengeführt. Ausschnitte in der „Frontleinwand“ sorgen dafür, dass die Innenräume der Galerie nur teilweise durchlässig, sichtbar und hörbar sind. Mit der Fensterscheibe als einer Übertragungs- und Reibungsplattform realisierte die Künstlerin ein 8-Kanal-Soundsystem aus Schallerregern und wetterfesten Lautsprechern, wie sie auf Schiffen zum Einsatz kommen. Das vibrierende, selbst konstruierte Audiosystem mit Schallwandlern überträgt akkumulierte Soundstücke und Gespräche zu Themen wie transregionalen Bündnissen, Heilung und Nanopunk. Das dynamische Diorama wird während der unbekannten Dauer der Ausstellung Veränderungen und Transformationen unterworfen.
* Der 1995 von dem medizinischen Anthropologen Merrill Singer geprägte Begriff der Syndemie beschreibt die Anhäufung von zwei oder mehr Epidemien oder Krankheitsclustern, die gleichzeitig oder nacheinander in einer Bevölkerung auftreten und zu biologischen Wechselwirkungen führen, die Prognose und Krankheitsverlauf verschlechtern. Syndemien entwickeln sich bei gesundheitlichen Ungleichheiten, verursacht durch Armut, Stress und strukturelle Gewalt.
BIO
Jessika Khazrik (geb. 1991, Beirut) ist eine Künstlerin, Technologin, Produzentin elektronischer Musik und Forscherin, deren indisziplinäre Praxis von Komposition und Ökotoxikologie über maschinelles Lernen, Kryptographie und Performance bis zu bildender Kunst sowie Wissenschafts- und Musikgeschichte reicht. Khazrik studierte Linguistik und Theaterwissenschaften an der Lebanese University und erwarb einen Master of Science in Kunst, Kultur und Technologie des MIT, wo sie mit dem Ada Lovelace Prize ausgezeichnet wurde. In den Jahren 2012/13 war sie Stipendiatin des Home Workspace Program der Ashkal Alwan und 2018/19 Stipendiatin des Digital-Earth-Programms. Sie ist als Technologin und Forscherin in verschiedenen kollektiven und institutionellen Umgebungen tätig. Ihre Arbeit zeigte sie u. a. in The Normandy Landfill, im Stanford Research Institute, auf dem CTM Festival, der Manifesta, in der Arab Image Foundation, der Kunsthalle Wien, in Les Urbaines, im Museum of Modern Art in Warsaw, im Times Museum Guangzhou, in der LUMA Foundation, im Haus der Kulturen der Welt, bei Amnesty International, im Center of Documentary Arts and Research der University of California, Santa Cruz, in ihrem Haus, im Internet, an geheimen Orten und im Theater der Welt. Ihre Essays und Kurzgeschichten erschienen u. a. im Bidayat Journal, dem Kohl Journal, in The Funambulist, Almodon und Ibraaz. Neben ihrer Solopraxis komponiert Khazrik den Soundtrack für das Film- und Forschungsprojekt GEOCINEMA, arbeitet häufig mit Künstler*innen und Labels an Albumcovern und Texten sowie mit DJs unter verschiedenen Namen zusammen. Aktuell ist sie Gastdozentin des MFA-Programms an der Hochschule für Künste Bremen und Redakteurin der Seite „Internationale Solidarität“ der Monatszeitschrift 17 teshreen/October 17.