ANOTHER SWISS VERSION
Stefan Altenburger, Philippe Schwinger, Bohdan Stehlik, Beat Streuli, Frédéric Moser, Jörg Lenzlinger, Myk Henry, Emmanuelle Antille, Szuper Gallery
kuratiert von Simon Lamuniére, Jerome Leuba und Cristina Busin
Nach Mario Vargas Llosa „ergänzt die Fiktion uns verstümmelte Wesen, die wir nur ein einziges Leben haben, um die Fähigkeit, tausend zu wünschen“. Was Fiktion ist und was nicht, wo die Wirklichkeit aufhört und wo die Erfindung anfängt das war so etwas wie ein untergründiges Leitmotiv des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts. Es ist gleichzeitig der schmale Grat, auf dem sich die jüngste Ausstellung der Galerie Museum bewegt: „Another Swiss Version“ junge Videokunst aus der Schweiz. Das ausgehende 20. Jahrhundert hat eines unabweisbar gezeigt: Eine klare Trennlinie zwischen Fiktion und Realität kann nicht mehr gezogen werden. Gebrauchs-Bilder werden unmerklich geschönt, gestreckt, ergänzt, verändert, die Retusche sieht man nicht mehr die Welt der Wünsche lappt hinein in die wirkliche Welt. Die wirkliche Welt wiederum hat Besitz ergriffen von der Fiktion. Kaum ein Film mehr verlässt die Traumfabriken ohne das Label:
Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen erwünscht und beabsichtigt. Das ironische Spiel mit den möglichen Wirklichkeiten hat längst alle Bereiche des Lebens ergriffen. Wo aber beginnt diese Grauzone zwischen Wunsch und Wirklichkeit? Wo hört das Beobachten auf und wo beginnt es, ein Interpretieren zu werden? Der Schweizer Kurator Simon Lamunière hat eine Auswahl aktueller Schweizer Videokunst zusammengestellt, die versucht, Anfang und Ende dieses Zwischenbereichs auszuloten. Das Publikum betritt die Galerie und gerät in eine Wartehalle, irgendwo zwischen Flughafen und Busbahnhof, eine Halte-Stelle im konkreten Wortsinn, ein Verlangsamen der Zeit, die Kunst geschieht in einer Zeitblase. Und damit ist man schon mitten in der Fragestellung. Denn Geschichten haben einen Anfang und ein Ende und damit beginnt bereits ein Stück Fiktion. Videokunst aber erzählt eher selten Geschichten in diesem klassischen Sinne. Sie ist so gesehen zeitlos. Die Betrachter begeben sich in die Situation, sie sehen ein Bild oder eine Bildfolge „und wenn sie wieder weggehen, ist das Bild noch immer da. Ich als Betrachter entscheide, wann Anfang und wann Schluss ist.“ (Lamuniere). Beat Streuli, 1957, etwa ist so ein Seiltänzer zwischen Beobachtung und Interpretation. Er ist bekannt geworden durch seine fotografischen Momentaufnahmen des Alltags: „Kids Playground“, 1995 entstanden, zeigt Kinder, die spielen. Oder besser: Kinder, von denen man denkt, dass sie spielen – die Betrachter ergänzen die Beobachtung mit der eigenen Interpretation.
Oder Myk Henry, 1965. Auch in dieser Ausstellung ist seine Videoarbeit dem Dokumentarcharakter verpflichtet. In drei Städten – Prag, Berlin und Genf startete er ein Experiment: Er überquerte die Straße, ließ einige Papiere fallen und hob sie in demonstrativer Langsamkeit wieder auf. Die Reaktionen zum Beispiel des wartenden Trambahn-Fahrers – wurden filmisch dokumentiert. Kurz vorher ist die Tram an einem Schild mit der Aufschrift „what is five minutes of your time?“ vorbeigefahren.
Das Duo Philippe Schwinger, 1961, und Frédéric Moser, 1966, geht einen Schritt weiter in Richtung Fiktion. Artifizielle Bildsequenzen, bei denen die Akteure Waffen in der Hand tragen, zielen, oder in ähnlichen Versatzstücke einer Thriller-Handlung agieren, vor dem Hintergrund einer Trabrennbahn. Doch die Bildfolge entspringt nicht aus der Logik einer zu erzählenden Geschichte. Die logische Reihenfolge ist durchlöchert. In die Löcher stößt die Interpretation der Betrachter.
Auch die dreiköpfige Künstlergruppe Szuper Gallery spielt mit dem Automatismus der Betrachter, aus einzelnen Bildfolgen Geschichten kreieren zu wollen. Die drei Künstler bewegen sich durch die Hallen und Büros eines großen Firmengebäudes in London, durch Gänge und Konferenzräume, Glastüren, Bildschirme und Empfangstische ziehen vorbei alles menschenleer, aber doch alles in Funktion. Irgendwann liegt jemand, unkennbar aus welchem Grund, am Boden…
Emmanuelle Antille, derzeit von vielen als die kommende junge Künstlerin der Schweiz bewertet, zeigt eines ihrer Videos über die menschlichen Beziehungen und deren Abgründe. Wie in einem Home-Video mit geradliniger Kamera-Bewegung und naiv wirkendem Schnitt bewegt sie sich in „It wouldn’t it be nice“, 1999, durch eine Normalfamilie, ihre eigene übrigens: Die Tochter kehrt zurück, gemeinsames Essen, die Tochter geht nach oben usw.. Doch die scheinbare Harmlosigkeit wird überschattet durch eine unangenehme, körperlich Spannung zwischen Mutter und Tochter. Ohne jemals explizit dargestellt zu werden, schwingt in der Szenenfolge die Bedrohung durch etwas Andersartiges, vielleicht Abgründiges mit. Doch alleinige Interpreten dieses Beziehungsnetzes sind die Zuschauer.
Jörg Lenzlinger, auch er einer der starken Jungen der Schweizer Szene, steuert drei Objekte bei, schmelzende Fernbedienungen, in einer sehr farbigen, dem Kitsch entlehnten Ästhetik.
Bohdan Stehlik, schließlich, zeigt in seinen Fotos Parks oder städtische Vororte, die er geringfügig verändert, z. B fügt er Reifenspuren oder Beleuchtungselemente ins Bild ein. Die ausgestellten Arbeiten im Galerieraum ähneln den Posters in Reisebüros. Im hinteren Raum der Galerie wird die Wartehalle verlassen. Dort wird ein digitaler Film gezeigt. Stefan Altenburger, 1968, hat einen Flugsimulator auf die Umkreisung der Erde programmiert. Der Rechner kalkuliert immer neue Bilder von der Erde, wie sie vom Cockpit aus zu sehen ist. Startpunkt der unendlichen Umkreisung war Genf, an Bozen führt die Flugbahn in rund zehn Kilometern Entfernung vorbei.