RUNO LAGOMARSINO – VIOLENT CORNERS
kuratiert von Luigi Fassi
Die Arbeit von Runo Lagomarsino (* Malmö, Schweden 1977, lebt und arbeitet in Sao Paulo, Brasilien) ist von einer Auseinandersetzung mit den historiographischen, geographischen und mathematischen Modellen gekennzeichnet, die es der westlichen Moderne ermöglicht haben, die gesamte Welt zu kolonialisieren. Wie äußert sich das Verhältnis zwischen der Erfindung einer geschichtlich-geographischen Beschreibung des Planeten durch die europäische Ratio und seiner politischen Beherrschung? Lagomarsinos versucht diese Frage zu beantworten, indem er von der Perspektive einer vergleichenden Kulturanalyse ausgeht, zugleich aber die Möglichkeit neuer Formen der kulturellen Interpretation aufzeigt, die sich von den bisherigen Interpretationen der neuzeitlichen europäischen Vernunft unterscheiden und sich ihnen widersetzen.
Im Rahmen der ersten Einzelausstellung des schwedischen Künstlers in Italien wird unter dem Titel Violent Corners eine Reihe an jüngeren und bislang unveröffentlichten Arbeiten ausgestellt. Der Fokus dieser Arbeiten liegt auf der Beziehung zwischen dem europäischen Kolonialismus und der Geschichte des südamerikanischen Kontinents vom 16. Jahrhundert bis heute.
So bezieht sich die Arbeit A Conquest Means Not Only Taking Over (II) (2010-11) auf die historische Figur des spanischen Eroberers Francisco Pizarro, der das Oberkommando über die Besetzung und Unterwerfung des südamerikanischen Inka-Reiches Anfang des 16. Jahrhunderts innehatte. Wie Historiker dokumentieren, konnte Pizarro weder lesen noch schreiben. Aus diesem Grund beglaubigte er die Verwaltungsakte in seinem Herrschaftsbereich mit zwei Schnörkeln anstelle der Unterschrift, in deren Mitte ein Notar das Dokument gegenzeichnete, um die rechtliche Authentizität des Schreibens zu garantieren. Dieses graphische Zeichen, das die Echtheit der Dokumente des spanischen Eroberers bezeugt, ist in seiner flüchtigen und an abstrakte Zeichnungen erinnernden Form eine Manifestation der europäischen Kolonialmacht. Es wird zur institutionellen Rechtfertigung von Gewalt und Unterdrückung, von Handlungen, die die Geschichte sowohl der Neuen als auch der Alten Welt für immer verändern sollten. Die Installation von Lagomarsino reproduziert philologisch die „Unterschrift“ von Pizarro in Form einer Wandtapete. Auf diese Weise verleiht er dem Symbol der spanischen Kolonialherrschaft den Charakter einer intimen und familiären Dekoration. Die Installation selbst wird rund um die Tapete herum angeordnet. Sie besteht aus einer Anzahl kleiner und alltäglicher Objekte und Fundstücke, mit deren Hilfe Lagomarsino die Sedimentierungen der neuzeitlichen europäischen Ratio aufzeigt, die sich selbst in den gewöhnlichsten und häuslichsten Formen durchsetzt, indem sie ein Raster an Bedeutungen und Interpretationen über den Rest der Welt stülpt. Pinnwände aus Pressholz, Fotografien und Teile von Wandmalereien werden in ihrer Gesamtheit zu einer Art Kompass, mit dessen Hilfe sich die geistige Matrix der Jahrhunderte währenden Geschichte der europäischen Weltherrschaft erfassen lässt.
Die künstlerische Auseinandersetzung wird mit der Installation Contratiempos (2009-10) fortgesetzt. Diese Installation, die sich mit dem von Oscar Niemeyer und Roberto Burle Marx 1954 errichteten Parque Ibirapuera in Sao Paolo auseinandersetzt, ist vom Geist des modernistischen Rationalismus Le Corbusiers durchdrungen, der in den südamerikanischen Kontext übertragen wurde. Zahlreiche kulturelle und öffentliche Gebäude der Stadt, unter anderem verschiedene Museen, befinden sich innerhalb des Parks. Diese Gebäude sind durch eine überdachte Promenade aus Zement, den sogenannten Marquise do Parque do Ibirapuera, miteinander verbunden. Contratiempos besteht aus 30 Diapositiven, auf denen die Brüche, Risse und Spalten im Zement des Marquise zu sehen sind. Sie weisen überraschende Ähnlichkeiten mit der geographischen Form des südamerikanischen Kontinents auf. Der Künstler hat hier mit minimalen Mitteln und ohne irgendwelche Veränderungen vorzunehmen, eine zufällige und dennoch reale Kartograophie Südamerikas erstellt, die den Kontinent in einer Annäherung zwischen Wunsch und Einbildung ins Gedächtnis ruft. Kolonialismus, Wunsch und Exotismus verbinden sich in dieser Arbeit auf subtile Weise, wobei das Modell des Marquise in kleinem Maßstab den komplexen Charakter der Erzählung Lagomarsinos verstärkt. Ein Holzmodellbau gibt auf abstrakte und dekontextualisierte Weise die gewundenen Formen der Struktur des Marquise im Parco di Ibirapuera wieder.
Raum, Zeitlichkeit, Kartographie und Aneignung konstituieren die tragenden Achsen der künstlerischen Erforschung des kolonialistischen Geistes bei Lagomarsino, die in der Videoarbeit The G in Modernity Stands for Ghosts (2009) strikt metaphorisch thematisiert werden. Zu sehen ist eine Schachtel aus Karton, die randvoll mit Papierkugeln gefüllt ist – zerrissene Fragmente der klassifizierten Orte und Räume, unbekannte und unentdeckte Orte auf einem geographischen Atlas des Planeten Erde. Das Streichholz, das auf der Schachtel liegt, entzündet sich und setzt damit die ganze Konstruktion in Flammen. Wie der Titel erahnen lässt, wird die Moderne hier als eine Doktrin ideologischer Herrschaftsformen begriffen; als Ideologie, die sich ihrer Geister nun nicht mehr entledigen kann. Es sind die Geister der erkenntnistheoretischen Alternativen, denen durch einen willkürlichen Akt des Ausschlusses aus der Kartographie die Berechtigung entzogen worden war. Auf diese Weise verwandelt das Feuer die Schachtel in einen sich selbst zerstörenden Sarg, der sämtliche globalen Terrae incognitae symbolisch auflöst.
Als Gespenster kartographischer Unzulänglichkeit, die diese Terrae incognitae, diese unbekannten Orte, erst schuf, gehen sie hier in Rauch und Flammen auf. Wie der Titel erahnen lässt, wird die Moderne hier als eine Doktrin ideologischer Herrschaftsformen begriffen, die in ihrem Inneren erkenntnistheoretische Alternativen birgt, denen jedoch durch den Akt des Ausschlusses aus der Kartographie die Berechtigung entzogen wurde. Ausgeschlossen wurden die als fremd wahrgenommenen Körper. Von ihnen blieb keine Spur, nicht einmal in den Buchstaben des Wortes Moderne, wie der Künstler ironisch herausstellt. Provokativ lenkt er die Aufmerksamkeit auf diese Ausgeschlossenen, auf die Gespenster der Moderne, indem er das G des Wortes Gespenst in den Corpus des Wortes Moderne [Modernity] einschließt.