Cube (draft), 2012; Cube, 2012
Ausstellungen

THE RAPE OF EUROPE

8.6.2012—28.7.2012

Leander Schwazer
The Rape of Europe (Der Raub der Europa)

Zu Beginn des Sechsten Buches der “Metamorphosen” berichtet Ovid von Arachne, die weithin bekannt für ihre herausragende Kunst am Webstuhl war. Ihre Begabung erregte den Neid der Pallas Athene, die sich als Schutzgöttin der Spinner und Weber schließlich auf einen Wettkampf mit der talentierten Künstlerin einließ. Arachne fertigte eigens für den Wettkampf einen Wandteppich und wählte als Motiv den „Raub der Europa“. Ihr Wandteppich stellte Zeus dar, wie er in Gestalt eines weißen Stiers das Mädchen Europa entführt. Den Worten Ovids zufolge war die Arbeit so realistisch, dass man jedes Detail darauf für wahr halten musste. Athene, blind vor Wut ob des Talentes und der Dreistigkeit Arachnes, verwandelte die sterbliche Konkurrentin daraufhin in eine Spinne, die von nun an dazu verurteilt war, für immer ihr eigenes Netz weben und die Fäden dafür mit ihrem eigenen Körper zu erzeugen.

Der Mythos der Arachne als metamorphe Gestalt, die an die Geschichte der Textilkunst gebunden ist, zieht sich durch die gesamte europäische Kultur. Eine erste ikonische Darstellung findet sich bei Tizian, der Mitte des 16. Jahrhunderts den „Raub der Europa“ auf einem Gemälde festhält, das im Laufe der folgenden Jahrhunderte vielfach übernommen werden wird. Es zeigt die junge Europa, wie sie von Zeus in Gestalt eines Stieres geraubt wird. Anfang des 17. Jahrhunderts widmet sich auch Pieter Paul Rubens der Ikonographie Europas, sein Gemälde entsteht in Anlehnung an die Vorlage Tizians. Im Jahre 1656 folgt Diego Velasquez mit “Las hilanderas” (“die Spinnerinnen” oder auch “Die Sage der Arachne”). Sein Gemälde spielt sich auf zwei szenischen Ebenen ab. Im Vordergrund des Bildes sitzen Spinnerinnen inmitten von Wollknäuel, Ballen und Spinnrädern, und im Hintergrund hängt ein Wandteppich, der den Mythos der Arachne darstellt. Die Textilarbeit der Arachne wird hier als erstes künstlerisches Zeugnis einer handwerklichen Praxis begriffen, die in Europa über viele Jahrhunderte von großer Bedeutung war, denn die Webkunst befindet sich am Übergang von der Kunst der Tapisserien zur industriellen Massenanfertigung. Am Schnittpunkt zwischen Kunsthandwerk und industrieller Produktion steht Leander Schwazer zufolge der Jacquard-Webstuhl. Dieser im Jahr 1805 von Joseph-Marie Jacquard erfundene mechanische Webstuhl mit Lochkartentechnik revolutionierte im 19. Jahrhundert die Textilwarenproduktion. Es war dieser Webstuhl, der es ermöglichte, die Herstellung von komplex gemusterten Textilien zu mechanisieren und damit deren Produktion zu vervielfältigen.

Im Rahmen der ar/ge kunst Ausstellung stellt Schwazer die Episode vom „Raub der Europa“ als historisch-ikonografisches Sujet in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Auseinandersetzung. So wird dieses mythologische Thema bei Schwazer zu einem archetypischen Motiv, das in zahlreichen Werken, Bildern und Schriften auf vielfältige Weise interpretiert wurde und im Verlauf der europäischen Kulturgeschichte häufig rezipiert wurde.

Im ersten Raum ist die Arbeit Der Raub der Europa (2012) ausgestellt. Dabei handelt es sich um eine philologische Rekonstruktion der mythologischen Szene des Ovid, so wie sie von Tizian und Rubens dargestellt wurde. Im Mittelpunkt der Szene befindet sich die Figur der Europa, die auf dem Rücken des Zeus in Gestalt eines Stiers davon reitet. Die Arbeit besteht aus einer Aneinanderreihung von Lochkarten im Sinne der mechanischen Technik des Jacquard-Webstuhls. Die Zeichnung selbst ist ein figuratives Mosaik, dessen Motiv von der Gesamtheit der gestanzten Löcher bestimmt wird, welche in ihrer Gesamtheit das Profil der Figuren und des Hintergrunds ergeben. Die Arbeit wird durch einen minimalistischem Kubus (Punched Europe, 2012) ergänzt, der aus hunderten komprimierten Papierstücken besteht, die während der Ausstanzung der Löcher als Ausschuss übriggeblieben waren.

Im zweiten Raum sehen wir die Arbeit Point Design (2012), die als Matrix für die Perforation der Lochkarten nach dem Vorbild Jacquards fungiert. Gleichsam einem Fotonegativ bzw. einer lithografischen Druckplatte, erscheint die Arbeit auf den ersten Blick als ornamental abstrakte Szene. Die Arbeit steht in Bezug zum Raub der Europa und lässt zugleich ihre Anlehnung an das Gemälde Tizians erkennen. Dabei fungiert Point Design als Matrix für die Kollage aus gestanzten Lochkarten. Im Ausstellungsraum verteilt finden sich weitere Fragmente und Zeugnisse der künstlerischen Recherche Schwazers. So sind einzelne Details wie der Kopf der Europa (The Head of Europe, 2012) zu sehen, die der Künstler mit einem historischen Jacquard-Webstuhl und Lochkarten gewebt hat. Zudem findet sich ein kleines, ebenfalls gewebtes Portrait von Joseph-Marie Jacquard (Jacquard, 2012) an der Ausstellungswand, welches nach einer Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert gefertigt wurde. Es erinnert an die fundamentale Rolle dieses französischen Erfinders, der auch Inspiration für die Ausstellung war.

Die abschließende Skulptur Grandfathers Stuff (2012) besteht aus einem Zylinder, der mit handgewebten Leinentüchern aus lokaler Herstellung bedeckt ist. So wird die Einbeziehung der Südtiroler Tradition handgewebter Textilien zu einem sichtbaren Verweis des Künstlers auf sein Herkunftsland.