IN THE WINTRY THICKET OF METROPOLITAN CIVILIZATION
Yin-Ju Chen & James T. Hong, Basim Magdy, Mores McWreath, Pietro Mele, Camilo Yáñez
kuratiert von Luigi Fassi
Die Arbeit In the Wintry Thicket of Metropolitan Civilization (Im frostigen Dickicht der Großstadt) zitiert eine gleichnamige Passage aus The Culture of Cities, dem ersten Werk des Architekturkritikers Lewis Mumford aus dem Jahr 1938. Als Schlüsseltext der städtebaulichen Entwicklung im 20. Jahrhundert, ist dieses Buch gleichsam das theoretische Manifest eines Urbanisten, der sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden, intellektuellen wie theoretischen Mitteln gegen jene Spirale der chaotischen, unmenschlichen und depressiven Entwicklung gewehrt hat, die sich in jener Epoche abzuzeichnen begann und zunehmend das US-amerikanische Stadtbild prägte. Mumfords leidenschaftliche Analysen vereinten in ihrem Versuch, die Urbanistik als zutiefst humanistische Praxis neu zu konzipieren, tatkräftiges Engagement mit theoretischer Weitsicht. Er betrachtete die Städteplanung von einem Standpunkt aus, der von einem Zusammenspiel gesellschaftlicher und fortschrittlicher Werte ausging. So ist The Culture of Cities Ausdruck einer Konzeption gemeinsamer Projekte und Hoffnungen, die konkret über eine planerische Praxis dekliniert werden, welche die Aufmerksamkeit wieder auf die Städte als entscheidende Zentren des gesellschaftlichen Lebens im 20. Jahrhundert und in naher Zukunft lenken sollten.
Im Rahmen der Ausstellung werden die Arbeiten von fünf Künstlern und Künstlerinnen aus verschiedenen Kontinenten gezeigt, die sich in ihrer künstlerischen Recherche mit der Thematik des Urbanismus und der städtischen Entwicklungsgeschichte der Großstädte auseinandersetzen – angefangen bei einem Wertesystem, das den Menschen in seiner ganzen sozialgeschichtlichen Komplexität in den Mittelpunkt der künstlerischen Reflexion stellt. Es handelt sich dabei nicht um deskriptive Arbeiten oder abstrakte Projektstudien, sondern um Erzählungen und Anregungen auf der Grundlage einer kritische Auseinandersetzung, bei der das Thema Stadt – verstanden als soziokulturelle Agglomeration, als Polis – einen zentralen Stellenwert einnimmt. Zwischen der jüngsten Vergangenheit und einer imaginierten Zukunft changierend, geben die ausgestellten Arbeiten auf ungezwungene Weise den enigmatischen Sinn des Titels wieder, den Mumford einerseits als Alarmsignal verstand, während er zugleich auf die Notwendigkeit hinweisen wollte, die Lebensräume des Menschen neu zu konzipieren, angefangen bei der Stadt als dem seit jeher wichtigsten Ort der Agglomeration und des menschlichen Zusammenlebens. So stehen der städtische Raum und die Orte der aktuellen Metropolregionen im Mittelpunkt der gezeigten Arbeiten der Ausstellung. Sie werden aus verwinkelten, mehrdeutigen Perspektiven beleuchtet und zwischen den Katastrophen der Vergangenheit und einer Gegenwart in ständiger Erneuerung neu verortet. Die Arbeit My Father looks for an honest city (2010) von Basim Magdy lässt eine desolate Szene in einem der Randbezirke Kairos erkennen. Der Bezirk dehnt sich aus, er ist gezeichnet von anonymen Gebäuden, die noch nicht fertig gebaut sind, von wassergebundenen Straßen und streunenden Hunden. Dieser Ort des Übergangs zwischen Zement und Wildwuchs, der noch nicht zur Gänze urbanisiert aber auch nicht mehr ländlich ist, wird vom Vater des Künstlers durchquert. Er hält dabei am helllichten Tag eine leuchtende Lampe in der Hand und untersucht das Territorium ohne eindeutig erkennbares Ziel. Die Bezugnahme dieser Arbeit auf den Kyniker Diogenes von Sinope ist evident, denn dieser lief bekanntlich mit einer Lampe in der Hand am helllichten Tag durch den Markt von Athen, um „einen Menschen“ zu finden. Mit dieser paradoxen Geste übte Diogenes eine radikale Kritik an seinen Mitmenschen, er drückte damit seinen Zweifel an ihrer Fähigkeit aus, ihre soziale Realität aktiv mitzugestalten anstatt seelenlose Komparsen zu sein. Die philosophische Wiederholung seitens Magdy inszeniert auf intuitive Weise dieselbe Aufforderung, indem er durch die minimalistische Geste seines Vaters ein anonymes Territorium analytisch als solches dechiffriert. Auf diese Weise hinterfragt er das Schicksal Kairos und ganz Ägyptens. Der Audio-Mitschnitt eines Unwetters mit Donner untermauert eruptiv die Trostlosigkeit dieser sonnigen Landschaft und unterstreicht damit in quasi-abstrakten Begrifflichkeiten die Entropie der industriellen Zerstörung des gesamten Gebietes sowie die radikale Unsicherheit der Gegenwart. Die gesamte Szene wird beherrscht vom sprachlosen Umherpilgern des Vaters-Diogenes – eine paradigmatische Mahnung, die wahre Identität des Menschen hinter den Schleiern der Hypokrisie zu suchen. You Have never Been There (2010) ist ein 90-minütiger Film von Mores McWreath, der sich aus 120 locker inszenierten Filmszenen zusammensetzt, welche in apokalyptischen Worten das Ende der menschlichen Zivilisation erzählen und thematisieren. Dazu hat der Künstler Szenen gewählt, in denen sich zerstörte urbane Landschaften mit zerstörten Naturlandschaften klar abwechseln. Sie sind gezeichnet von den Überresten der westlichen Zivilisation und von einer Gegenwart, die sich im Niedergang und in Auflösung befindet. Während des ganzen Films erscheinen keine Menschen auf der Bildfläche, so als ob die gesamte Menschheit die letzte Katastrophe, die sich auf den Planeten niedergeschlagen haben würde, nicht überlebt hätte. McWreath hat jede Erzählung, jede anschauliche Inszenierung ausgeschlossen und sich stattdessen beim Schneiden auf Bilder des Übergangs und der Durchquerung konzentriert. Auf diese Weise werden diese Bilder zum wesentlichen Bestandteil seiner Arbeit. In letzter Instanz ist You Have Never Been There ein Abbild der westlichen Gesellschaft nach ihrem Untergang; es ist die bildliche Beschreibung einer fortschreitenden Selbstzerstörung, wobei der Künstler die Filmästhetik letztlich der Fiktion entzieht, um zu einer realen Dokumentation zu mutieren, zu einem Zeugenbeweis, zu einem Archiv ante litteram für ein durchaus glaubwürdiges zukünftiges Szenario. End Transmission (2010) von Yin-Ju Chen & James T. Hong ist ein weiterer Film voller Zukunftsverweise, bei dem eine latente Bedrohung in der Luft liegt. Eine Reihe aufeinander folgender Schwarzweißbilder von Großstadtplätzen bildet eine nicht dechiffrierbare Landschaft, die ein Gefühl der Überwachung und Unterordnung vermittelt. Periodisch wiederkehrende Botschaften diktieren das neue Programm der globalen Verwaltung durch unbestimmbare, fremde Wesen. Aus den Texten in Befehlsform geht hervor, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit versagt hat und einer radikalen Intervention in Form einer Wiedergeburt seitens einer äußeren Macht bedarf. Dieser Eindruck einer Science-Fiction Szene wird durch die filmische Stringenz der beiden Künstler verstärkt, unterstützt von authentischen Bildern diverser Industrieplattformen sowie nächtlicher Aufnahmen von schier grenzenlosen Metropolen, Treibhäusern und Massen an Konsumgütern, die für den Export bestimmt sind. Der dokumentarische Stellenwert dieser Aufnahmen wird durch den Verzicht auf Farbe und Ton verklärt, dadurch wird die Stimmung des Geschehens suspendiert, während die Botschaften erhalten bleiben. So erscheint der Film zunehmend als visuelle Halluzination zwischen Alptraum und Erlösung. Als Filmschauplätze dienen Yin-Ju Chen und James T. Hong verschiedene Orte in Europa und Asien, ihre Szenen sind Anspielungen auf die derzeitigen Veränderungen des aktuellen urbanen Kontextes sowie auf die industrielle Massenproduktion. Auf diese Weise gelingt es ihnen, ein dramatisches Bild vom Ausmaß der globalen Entfremdung unserer gegenwärtigen Lebens- und Arbeitswelt zu zeichnen. Im Mittelpunkt der aktuellen künstlerischen Recherche des Italieners Pietro Mele steht die dramatische Entwicklung einer Sardischen Kleinstadt. Der Künstler initiiert eine kritische Reflexion über die traumatischen Auswirkungen der Moderne, deren Fortschritt über das ländliche, einst vom Hirtentum geprägte Leben der Mittelmeerinsel hereingebrochen ist. Ottana (2008) heißt die Arbeit, die nach der gleichnamigen Kleinstadt in der Region Barbagia auf Sardinien benannt wurde. Zu Beginn der 1960er Jahre gründete ein großer Mineralölkonzern hier einen neuen Standort, der im Laufe der Zeit enorme Umweltschäden mit sich brachte. Die Arbeit Meles handelt vom offenkundigen Kompromiss zwischen der Notwendigkeit der industriellen Produktion und dem Alltag der Arbeiter, die nach wie vor ihre Traditionen und Bräuche pflegen und ihre tradierte Lebensweise erst an den Toren der Fabrik ablegen. Ottana reiht sich in diesem Sinne in die kulturkritische Tradition Italiens ein, zu der unter anderem Schlüsselfiguren wie Carlo Levi oder Pier Paolo Pasolini zählen. Sie hatten früh erkannt, dass die Moderne zwar Wohlstand und Massenkonsum bedeuten kann, zugleich aber auch einen unumkehrbaren Bruch mit Jahrtausende alten kulturellen Bräuchen und Traditionen mit sich bringen würde. So erscheinen Urbanisierung und Industrialisierung im Film von Mele als importierter Alptraum, als monströse Halluzination, die sich vom Hintergrund der ländlichen sardischen Umgebung abhebt, während Arbeiter hintereinander auf ihren Rössern durch das Morgengrauen Richtung Fabrik reiten. Schauplatz des Films Estádio Nacional (2009) von Camilo Yáñez ist die Stadt Santiago de Chile und ihre dramatische Entwicklung im Verlauf der letzten Jahrzehnte. Der Film wurde vom Künstler am 11. September 2009 im Nationalstadion von Chile als einem der wichtigsten Schauplätze der Chilenischen Zeitgeschichte gedreht. Seit dem Staatsstreich vom 11. September 1973 besitzt das Stadion einen besonderen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis Chiles, denn an jenem Tag hatte General Pinochet mit Unterstützung der US-Regierung die demokratische Regierung Salvador Allendes gestürzt. In den turbulenten Tagen nach dem Putsch wurde das Stadion zu einem Gefangenenlager umfunktioniert, in dem über 3000 Menschen von den Milizen der neuen Militärdiktatur in wenigen Tagen hingerichtet wurden, wie selbst aus den Dokumenten der offiziellen Geschichtsschreibung hervorgeht. Yáñez hat den Film im Inneren des Stadions gedreht, das gerade renoviert und umgebaut wurde, um für die Feierlichkeiten zum zweihundertjährigen Bestehen der nationalen Einheit Chiles gerüstet zu sein. Dabei filmt er das Stadion aus zwei verschiedenen visuellen Perspektiven, den Blick einmal nach außen und einmal nach innen gerichtet. Der Film wird begleitet von einem bekannten Lied aus dem chilenischen Repertoire, Luchìn von Victor Jara, es handelt von den armen Kindern Santiagos. Somit ist Estádio Nacional eine Hommage an die chilenische Geschichte, aber auch eine Elegie, die der Opfer des Staatsstreichs von 1973 gedenkt. Nicht zuletzt versteht sich die Arbeit Camilo Yáñez’ aber auch als Zeichen der Hoffnung – an einem Ort, der einerseits Schauplatz der größten Hoffnungen, anderseits aber auch der schlimmsten Kapitel der chilenischen Geschichte war.