Mark Boulos, Frame from All That Is Solid Melts into Air, video, 2008 Courtesy the artist
Ausstellungen

MARK BOULOS

23.4.2010—19.6.2010

kuratiert von Luigi Fassi

Die erste Einzelausstellung von Mark Boulos (Boston, USA 1975, lebt und arbeitet in Amsterdam) in einer italienischen Institution baut auf drei Videoarbeiten auf: All That Is Solid Melts into Air (2008), The Origin of the World (2009) und The Word was God (2006). Damit soll ein ausgewogener Überblick über das Schaffen des amerikanisch-schweizerischen Künstlers ermöglicht werden. Boulos’ Arbeiten setzen sich mit dem komplexen Verhältnis zwischen religiösem Fundamentalismus, Ideologie und Terrorismus auseinander und bezeugen auf diese Weise seine Intention, zu einer radikalen künstlerischen Praxis zu gelangen, die über die partizipatorische Beobachtung des Künstlers in schwer zugänglichen und gesellschaftlich extremen Kontexten stattfindet. Seine Filme experimentieren mit einem sozialkritischen Gebrauch des Mediums Video. Dabei wird der Zuschauer nicht mit einer vorgefertigten Wahrheit, sondern mit einem filmischen Prozess der Analyse, Interpretation und Evolution konfrontiert.
Der erste Teil der doppelten Videoprojektion, All That Is Solid Melts into Air, wurde in Nigeria gedreht, im Mündungsdelta des Niger als einem der größten Erdölfördergebiete der Erde, wo ein gewaltsamer Konflikt zwischen der lokalen Bevölkerung und den von der Regierung des Landes zugelassenen Erdölfirmen tobt. Die Förderung des Rohöls hat dem betroffenen Landstrich de facto keinerlei ökonomischen Fortschritt gebracht, sondern im Gegenteil dazu beigetragen, die Lebensqualität durch Zerstörung und Umweltverschmutzung zu verschlechtern und die fragile Subsistenzwirtschaft der einheimischen Bevölkerung nachhaltig zu zerstören. Boulos hat mehrere Wochen bei den Mitgliedern der Bewegung Movement for the Emancipation of the Niger Delta zugebracht. Es sind einfache Fischer, die zu Guerillakämpfern wurden, um die neokolonialistische Ausbeutung der Rohstoffressourcen zu bekämpfen. Das Video verfolgt die Spur der internen Perspektive, indem es das paroxystische Crescendo der Riten und Bekundungen sowie des Gemeinsinns begleitet, durch welche die Mitglieder des Movement For Emancipation geeint werden. Ihr Ziel ist es, sich selbst und ihrem Land die Würde zurückzugeben. Der zweite Teil der Videoprojektion zeigt dagegen die Warenterminbörse in Chicago als zentralen Umschlagplatz und Börse für die weltweiten Rohölpreise. Das Video wurde im Zuge des Zusammenbruchs der amerikanischen Bear Sterns Bank zu Beginn der internationalen Kreditkrise gedreht und setzt nun ein gänzlich anderes Ritual in Szene. Es ist das Ritual der spekulativen Raserei der Börsenbroker in Chicago, die den Wert von Erdöl mit Finanzinstrumenten wie den Futures als börsengehandelte Termingeschäfte verhandeln. Die zweigeteilte Perspektive der Arbeit All That Is Solid Melts into Air, die ihren Titel dem Kommunistischen Manifest Karl Marx’ entlehnt, zeigt auf diese Weise das Erdöl als materielle Ware in zwei unterschiedlichen Phasen seiner Reise durch die globale kapitalistische Weltordnung: von seiner Förderung in den Sümpfen des Nigerdeltas bis hin zur ökonomischen Auflösung an den elektronischen Börsentafeln in Chicago.

The Word was God ist eine aus zwei aufeinanderfolgenden Teilen bestehende Arbeit, die sich mit dem Problem der Repräsentation und Thematisierung der metaphysischen Erfahrung des Numinosen auseinandersetzt, dabei jedoch von den Gegebenheiten der konkreten materiellen Wirklichkeit ausgeht. In der ersten Hälfte des Videos zeigt der Künstler das Portrait eines alten Eremiten in einer entlegenen Region Syriens, welche zugleich eine der ersten frühchristlichen Siedlungen war. Noch heute sprechen hier einige tausend Menschen aramäisch, die Sprache der Offenbarung Jesu Christi. Der zweite Teil der Arbeit wurde in der Shiloh Pentecostal Church von London gedreht, einer christlichen Gemeinschaft von Pfingstgläubigen afrikanischer Herkunft, wo das gemeinsame Gebet in einem Crescendo von Lauten und Rufen in Folge unbekannter linguistischer Codes eruptive Formen mystischer Ekstase annimmt. Sie sind sogar den Betenden selbst unbekannt, nur Gott kennt sie. Die Mitglieder der Pfingstgemeinde von Shiloh, die durch die Zungenrede über sich selbst und über die Grenzen der diskursiven Rationalität hinausgehen, werden für den Künstler zur Metapher und Metonymie der Gott-Mensch-Beziehung, zur Repräsentation des Übergangs vom Irdischen zum Überirdischen vermittels der intuitiven Kraft der Sprache.

Das Problem der Selbstdarstellung und der Beziehung zwischen Authentizität und Fiktion wurde von Boulos in einer späteren Arbeit, The Origin of the World, analysiert. In dieser Arbeit wird eine Videokamera hinter einem doppelten Spiegel angebracht, um ein Spiel der Bilder und der überlappenden Rückverweise zu erzeugen, wobei das Antlitz des Künstlers sich in seiner eigenen Pupille reflektiert. Dies wird im Vordergrund des Bildausschnittes wiedergegeben. Inspiriert von der Arbeit Gustave Courbets, dem filmischen Werk Dziga Vertovs und dem Denken von Jacques Lacan, ist The Origin of the World ein raffiniertes Experiment entlang der Chiffren der Psychoanalyse, der theatralischen Fiktion und der narrativen Täuschung.