RASHAAD NEWSOME
kuratiert von Luigi Fassi
Im Jahr 2006 begann Rashaad Newsome damit, den gestischen Sprachgebrauch afroamerikanischer Frauen zu erforschen. Dabei untersuchte er die Art und Weise, wie afroamerikanische Frauen ihre Expressivität ausleben, wie sie ihre Emotionen spontan zum Ausdruck bringen. Newsomes Absicht bestand darin, die allgemein gebräuchliche, stigmatisierende Konzeption der Gestensprache als Ausdruck des Großstadtghettos, des sozialen Niedergangs, der schwachen Alphabetisierungsrate und sozialer Randständigkeit, konzeptuell umzukehren und anhand anthropologischer Untersuchungen in einen Ausdruck der kulturellen Würde des afroamerikanischen Gestenrepertoires zu verwandeln. Wem gehört diese Sprache in Wahrheit? Wie hat sie sich im Laufe der Zeit entwickelt und wo liegen ihre geographischen Grenzen? Fragestellungen wie diese bezeichnen den theoretischen Horizont der künstlerischen Untersuchungen Newsomes und führen zu einer komplexen Forschung der Thematik der Zugehörigkeit und der kulturellen Vielfalt.
Im Mittelpunkt der ersten Einzelausstellung des amerikanischen Künstlers in einer europäischen Institution steht die Performance Shade Compositions. Die in Shade Compositions dargestellte natürliche Ausdrucksweise der afroamerikanischen Frauen entwickelt sich zu einer linguistischen Symphonie, zu einer choralen Darbietung, die einem kollektiven Rhythmus folgt. Sie vereint und transzendiert die Einzigartigkeit der individuellen Gesten und verleiht ihnen auf diese Weise eine mit dem Gesangsfluss einhergehende Dynamik.
Im Zuge seiner künstlerischen Recherchen hat Newsome eine erste Version von Shade Compositions bereits 2006 in Paris mit französischen Frauen afrikanischer Herkunft inszeniert. Eine weiterentwickelte und komplexere Variante der Performance wurde 2009 in New York realisiert. Dabei arbeitete der Künstler mit rund zwanzig jungen afroamerikanischen Frauen zusammen. Das Ergebnis ist eine vom Künstler arrangierte Partitur, die der Natürlichkeit des stimmlichen und gestischen Repertoires dieser Frauen Ausdruck verleiht. In fünf unterschiedliche, ineinander übergreifende Abschnitte unterteilt, ähnelt die Performance einer klassischen Orchesterkomposition, deren expressive Kompaktheit sich in den linguistischen und gestischen Mustern reflektiert, welche die jungen Teilnehmerinnen wiedergeben – etwa das Schnipsen mit den Fingern, das Schnalzen mit den Lippen, das Schnauben, Stöhnen, Seufzen und Ausrufen, das Zurückweisen und die aggressive Haltung einer dezidiert ablehnenden Antwort. Neben dem Video der New Yorker Performance, die als unabhängige Arbeit präsentiert wird, werden in der Ausstellung Shade Compositions (Screen Tests 1-2) zwei weitere Videoarbeiten gezeigt, in denen das Casting zahlreicher Kandidatinnen und ein vom Künstler organisiertes Auswahlverfahren zu sehen ist, bei dem die Ausdruckssprache der Frauen beobachtet und studiert wird. So gibt die Videoarbeit Screen Tests in Form von Übungen, Proben und Wiederholungen auch Einblick in das große Videoarchiv, das Newsome im Verlauf der letzten Jahre zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika angesammelt hat.
Das jüngste Projekt Newsomes, Five (2010), ist eine weitere Untersuchung einer marginalisierten linguistischen Ausdrucksform im Gefolge der afroamerikanischen Kultur. Es handelt sich um Voguing, jenen Tanzstil, der in den 70er und 80er Jahre in den amerikanischen Schwulen- und Lesben-Tanzclubs entwickelt wurde. Der Vogue dance ist ein Tanz der Straße, ein freier und kreativer Tanz, der zugleich komplex und ausgeklügelt ist und dabei stets in großer Nähe zum zeitgenössischen Tanz verbleibt. Ähnlich wie in Shade Compositions gilt Newsomes Interesse auch hier der Erforschung der Entwicklung und kulturellen Bedeutung des Voguing als Kommunikationsmodell. So ist Five eine multimediale Performance, die den fünf hauptsächlichen Bewegungen des Vogue-Stils folgt, der aus Rotationen und Fluktuationen besteht, welche die physische Präsenz der Tänzer geradezu herausfordern.
Die Arbeiten Untitled (2008) und Untitled (New Way) (2009) unterstreichen das Ansinnen Newsomes, die fruchtbare Ästhetik des ursprünglichen Voguing wieder ins Gedächtnis zu rufen, so wie sie sich in der afroamerikanischen Tradition der Straßenkultur zwischen freier Improvisation und dem Fluss der Gesten und ihres Ausdrucksrepertoires erhalten hat.