Alessandro Gagliardo Dei poteri e delle povertà, fotogramma, 2011
Ausstellungen

UN MITO ANTROPOLOGICO TELEVISIVO

15.9.2011—5.11.2011

Alessandro Gagliardo
kuratiert von Luigi Fassi

Alessandro Gagliardos Arbeit beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Fernsehreportagen auf die Konstruktion einer mythografischen Lesart der sizilianischen Zeitgeschichte. Diese mit Un mito antropologico televisivo (ein anthropologischer Fernsehmythos) betitelte Studie befasst sich mit den entscheidenden Jahren zwischen 1991 und 1994. Diese Jahre waren von einer Vielfalt an Ereignissen gekennzeichnet, welche die sizilianische und italienische Geschichte nachhaltig verändern sollten. So wurde Sizilien in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre zum Schauplatz eines wachsenden Konflikts zwischen dem Staat und den Bürgern sowie einer generellen Neuordnung des Landes, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein reichen. Die gesamte Region war geprägt von Mafiamorden, die in der Ermordung der Mafiarichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino bei Palermo gipfelten, aber auch von einer Wohnbaukrise, die von dem jahrzehntelang ungelösten Problem der illegalen Bautätigkeit gekennzeichnet war.
Gagliardos Projekt ist eine komplexe, in einzelne Kapitel unterteilte Erzählung dieser Ereignisse, die bei der alltäglichen Mikrogeschichte der Provinz Catania und ihrer Dörfer beginnt. Anhand der gesammelten Materialien von Reportagen der lokalen Fernsehsender jener Zeit werden diese Ereignisse dokumentiert.

Mitografia (Mythografie), 2011, ist ein visuelles Objekt darstellender Kunst, das aus insgesamt über hundertzwanzigtausend Einzelbildern von Physiognomien und Stimmungen von Menschenmassen besteht. Die Arbeit besteht aus der verlangsamten Abfolge von Fernsehdokumenten, die im Laufe der öffentlichen Protestkundgebungen in der Region Catania in den frühen Neunzigerjahren gefilmt wurden. Sie regt zum Nachdenken über die anthropologische Veränderung der Gesellschaft an, die gerade in den Dokumentationen des Mediums Fernsehen deutlich zutage tritt.
Gagliardo lässt in Mitografia eine kulturelle Sensibilität erahnen, die auch in den zwei anderen Videoarbeiten von Città Stato (Stadt Staat), 2011, erkennbar ist. Auf diese Weise rückt er seine Arbeit in die Nähe jener Denktradition, die seit den Vierzigerjahren die Krise des italienischen Mezzogiorno anklagte und zugleich die sozialen und politischen Potenziale dieses Gebietes im Kampf gegen den Niedergang aufzeigte, den der italienische Neokapitalismus hier verursachte. Die Arbeit Gagliardos scheint diese Tradition wieder aufleben zu lassen. Sie reicht von den Reisen und Büchern Carlo Levis in und über den Süden, über die politische und literarische Tätigkeit von Antonio Gramsci, Rocco Scotellaro und Danilo Dolci bis zur Anklage des Genozids der bäuerlichen Welt Italiens durch Pier Paolo Pasolini. Dank seiner wesentlich anthropologischen Interpretation gelingt Gagliardo die thematische Wiederaufnahme dieser Denktradition, die ihr Augenmerk auf die sizilianische Gesellschaft der frühen Neunzigerjahre legt. Die Zunahme der Mafiamorde in dieser Zeit wird von Gagliardo durch eine minuziöse Darstellung des Mikrokosmos von Catania ausgelotet, wo die Morde und die Brutalität von öffentlichem Unbehagen begleitet wurden, hervorgerufen durch die zahlreichen Spuren illegaler Bautätigkeit, aber auch durch die Unmöglichkeit einer Vermittlung zwischen Bürgern und zuständigen Behörden. Gagliardos Arbeiten bestehen nicht aus zusammengestelltem Filmmaterial, das nachträglich bearbeitet und geschnitten wurde, sondern aus einer magmatischen und rohen Anhäufung von rohem Archivmaterial. Gezeigt werden stundenlange Filmbänder lokaler Fernsehsender, die im Umland von Catania aufgenommen wurden, so, wie sie noch vor jedem Schnitt und vor jeder Verarbeitung zur Ausstrahlung im TV gefilmt wurden.

Dieselbe Logik herrscht in Dei poteri e delle povertà, (Von den Mächten und der Armut 2011), eine Installation, die aus hunderten von einzelnen, auf Papier entwickelten Standbildern besteht, die aus demselben Material von S-VHS-Kassetten eines lokalen Fernsehsenders in Catania stammen. Wie der Titel erahnen lässt, ist die Arbeit eine visuelle Dramaturgie, die sich zwischen Kontrasten, Schwarzbau und Elend ansiedelt. Der Alltag in den Straßen kleiner Städte wie Biancavilla, Adrano, Misterbianco, Santa Maria di Licodia und Paternò spielt sich zwischen den Schauplätzen der Mafiamorde und Grabsteinen, aber auch zwischen urbanen Landschaften und den ländlichen Gegenden der Peripherie ab. Die Mikrophone, die immer wieder im Bild auftauchen, sind ein entscheidendes Element der ikonographischen Metamorphose der Schauplätze, welche die Vermittlung zwischen den Fernsehkameras und dem Geschehen, zwischen der Alltagserfahrung und der journalistischen Erzählung unterstreichen.

Dieser Vorgang anthropologischer Sublimierung erreicht seinen Höhepunkt in Filosofia della miseria (Philosophie des Elends), ein Video, das Archivbilder von einem kleinen Dorffriedhof in der Provinz Catania zeigt. Inmitten der verwüsteten Szenerie eines trübseligen Friedhofsspaziergang zwischen namenlosen, von Kreuzen überragten Erdhaufen, Grabnischen und alten Besuchern, vermitteln die Bilder der Fernsehkamera das Gefühl von Zerstörung und Not. Auch hier werden die visuellen Aufzeichnungen des Kameramanns in der Neusichtung durch Gagliardo zu universellen Materialien, zu kümmerlichen Fragmenten einer Zeit der Armut, in der sogar der Tod seiner selbst beraubt scheint und in Erwartung einer zukünftigen möglichen Erlösung zu einem säkularisierten Mythos wird.